Jg 13: Besuch der Inszenierung „Corpus Delicti“ (Wolfgang Borchert Theater Münster)

Nicht zuletzt aufgrund der Corona-Pandemie ist Juli Zehs Roman Corpus Delicti aus dem Jahr 2009 jüngst auf die Bestsellerlisten Deutschlands zurückgekehrt und erfreut sich, ganz wie bei seiner ursprünglichen Veröffentlichung, großer Beliebtheit. Die Autorin selbst hat in den vergangenen zwei Jahren zahlreiche Interviews gegeben und kontinuierlich selbst Stellung zu der Frage genommen, inwiefern die Gesundheitsdiktatur aus ihrem Zukunftsroman bloße Fiktion geblieben ist – oder doch schon reale Züge angenommen hat. Im Übrigen stellen die zentralen Themen Künstlicher Intelligenz und voranschreitender wissenschaftlicher Erkenntnisse seit jeher ein sehr beliebtes Motiv für Adaptionen auf deutschen Theaterbühnen dar, was nicht verwundert: schließlich schrieb Zeh Corpus Delicti ursprünglich als Theaterstück, zwei Jahre vor Verarbeitung als Roman. So nahmen sich Regisseurin Tanja Weidner und das umgebende Ensemble dem Stoff unlängst mit experimentierfreudiger Einstellung und bemerkenswertem Erfindungsgeist an. Zu sehen war das Resultat auch für uns, die Teilnehmer aller Deutschkurse des 13. Jahrgangs, am 13.09.2022 im Wolfgang Borchert Theater in Münster.

Hierbei schreckt man inszenatorisch nicht vor ausgiebigem Gebrauch der technischen Möglichkeiten des Innenraums zurück und reizt die Lokalitäten vollstens aus – dies wird nicht nur auf den herkömmlichen Publikumsplätzen deutlich, sondern noch viel mehr auf den wenigen ausgewählten Bühnenplätzen. Diese befinden sich auf der Bühne selbst, sind seitlich auf das Geschehen gerichtet und bringen das Privileg einer eigenen Virtual-Reality-Brille mit sich, mittels derer eingespielte Videos aus dem virtuellen Raum zu verfolgen sind. Diese VR-Sequenzen werden aber auch für das restliche Publikum über vier im Raum verteilte Bildschirme zum eigenen Erlebnis – wenn es nicht gerade von der Gruppe desorientierter und sich um sich selbst kreisender Bühnenzuschauer abgelenkt wird. Durch Nutzung eines solchen Formats lassen sich die Darstellungsformen des Theaters, die Reize der Technik und immersive Erfahrungen für die Besucher weiter, offener und größer denken. Die Kehrseite der Medaille jedoch sind technische Defizite der Brillen selbst, teilweise Überanstrengung der Augen nach nur wenigen Minuten und mangelnde Orientierungsmöglichkeiten, die, trotz noch so faszinierenden Spektakels, leicht in einer Reizüberflutung enden können. Zudem wundert man sich am Ende doch ein wenig, ob die gewählten VR-Rückblenden dieser Umsetzung wirklich bedurft hätten – oder ob die Technologie anderweitig noch effektiver hätte eingesetzt werden können.

Doch von dieser kleinen Läsur bleibt der Rest des Stücks nicht weiter beeinträchtigt – denn setzt man die Brille wieder ab, bieten allein die Einfachheit des Bühnenbildes und die somit noch deutlicher werdende Finesse der restlichen audiovisuellen Effekte ein beachtenswertes Stück Thea ter. Alle vier der im Raum verteilten Bildschirme zeigen zu jedem Zeitpunkt ein anderes Bild: oft sind es Überwachungskamera-ähnliche Perspektiven, sodass nicht bloß das Gefühl eines Polizeistaats allgegenwärtig ist. Auch den Schauspielern verlangen diese Aufnahmen erschöpfende und überzeugende Darstellungen ab, was kontinuierlich mehr als bloß gelingt. Denn neben minutiös abgestimmtem Licht – und Sounddesign, vielseitiger Nutzung von Greenscreen – und Livestreaming – Effekten sowie Integrierung einfacher Alltagstechnologie, die zum Nachdenken anregt, ist und bleibt das Herzstück dieser Inszenierung von Corpus Delicti seine Besetzung.

Das verhältnismäßig kleine Ensemble von Darstellern – von denen mancher Doppel- bis Dreifachbesetzungen bietet – gibt sichtlich alles und hat beständig Freude an ihren Rollen, die schon in der Romanvorlage klar und charismatisch gezeichnet sind. Ivana Langmajer als empathische Richterin Sophie überzeugt vor allem mit subtiler Mimik (schließlich ist sie meist per Großbildschirm zu sehen) und Alessandro Scheuerer tritt ebenfalls vorrangig digital auf, trägt mit seiner überspitzten Darstellung Moritz Holls allerdings klar zum Bild des individualistischen Anarchisten und Freiheitskämpfers bei. In ähnlicher Manier präsentiert sich Erika Jell als die „Ideale Geliebte“, die in ihrem Gemüt Scheuerers Darbietung noch übertrifft und sich hervorragend gerade deshalb in jede

Szene integriert, weil sie so sehr hervorsticht. Florian Bender begeistert allein aufgrund seiner drei dargestellten Rollen, von denen jede mit viel Liebe und Humor ausgestaltet wird. Am wohl präsentesten ist er als nervöser, tollpatschiger und unsicherer Rechtsanwalt Rosentreter. Zugleich sorgt er in pointiert humoristischen Momenten als schwäbische Hausfrau für entspannende und amüsante Momente. Schließlich sitzt er als Würmer, TV-Moderator der Talkshow „Was alle denken“, schmeichelhaft und anbeterisch des Öfteren neben dem großen Antagonisten des Stücks: Jürgen Lorenzens Heinrich Kramer. Dieser referiert wieder und wieder über die Grundsätze der „Methode“ und überzeugt mit einer charismatischen, rigiden, selbstgenügsamen, perfid-zynischen und durchweg anziehenden Darbietung eines zutiefst abstoßenden Charakters. Im Zentrum des Geschehens steht ihm Mia Holl, gespielt von Rosana Cleve, gegenüber. Nachdem die „Methode“ ihr ihren Bruder nimmt, verliert die zweifelnde Naturwissenschaftlerin scheinbar langsam den Verstand – zumindest aus Kramers Sicht. Konträr betrachtet ist sie selbst der Auffassung, in ihrer Kritik des Systems erst Klarheit zu gewinnen. Gerade in diesem sagenhaften Gegenspiel der zwei Antipoden glänzen Cleve und Lorenzen am meisten: wenn sie Ersterem in philosophischen Grundsatzdiskussionen mit empathischer Ader, Rachegelüsten, aufsässiger Haltung und spöttischer Verachtung gegenübersteht, durchlebt das Publikum in der Zeitspanne dieser (pausenlos gespielten!) knappen zwei Stunden die gesamte Bandbreite menschlicher Emotionalität, während die verzweifelte Suche nach Individualität auf die Strenge der Gesundheitsdiktatur in persona trifft.

All die aufgezeigten Punkte machen diese Darbietung von Corpus Delicti des Wolfgang Borchert Theaters zu einem wahren Erlebnis, das sich nicht zuletzt durch die technischen Neuerungen und die schiere Risikofreude aller Beteiligten auszeichnet – wobei Imperfektion und kleine Makel in der Umsetzung selbstverständlich dazugehören. Zu einem überwältigenden Großteil kann aber rechtens behauptet werden, dass die wenigen Nachteile allein von der Imposanz der funktionierenden Aspekte und der grandiosen Leistung des gesamten Ensembles klar überschattet werden. Eine wahrlich großartige Exkursion, für die sich die dreistündige Busfahrt nach Münster allemal gelohnt hat!

Autor: Christian Visser